Blow up

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© Volker Hanisch

von Clemens Meyer

Hilbigs Fabriken werden wahrscheinlich erst in Hunderten, wenn nicht sogar Tausenden Jahren wiederauferstehen.
Nach einer wie auch immer aussehenden Apokalypse, nach dem endgültigen Ende der Industrialisierung, nach dem großen Kollaps... Verlassen, verfallen, schwarze und ziegelrote, betongraue Monolithen ... Aber eigentlich finden wir sie heute noch, in Polen, in den Ländern des zerfallenen Jugoslawien, und auch im zerfallenen Ruhrpott, Fabriken, Kraftwerke, lehrstehend, dem Betonfraß ausgesetzt, Ruinen aus einer anderen Zeit.
Bei Hilbig befindet sich die verfallene Fabrik, die der frühen Prosaminiatur ihren Namen gibt, in seiner Zeit, in seinem Land, der DDR, aber es ist ein beinahe mythologischer Ort. Fast wie die Zone in Tarkowskys Film „Stalker“, der ja nach dem Science-Fiction-Roman „Picknick am Wegesrand“ entstand.
Hilbig schrieb „Die verlassene Fabrik“ 1971, der Film „Stalker“ kam erst Ende der 70er in die Kinos. Ob Hilbig die Romanvorlage kannte? Die aber nicht dieselben apokalyptischen Bilder enthielt wie der Film.
Hilbig las ja, das ist bekannt, gerne Krimis, Thriller, sogenannte Genreliteratur (natürlich auch, wie ein Besessener die Weltliteratur, von der Romantik bis zur Moderne).
Viele seiner Nacht-Etüden wirken wie Szenen eines Film noir. Selbst in „Alte Abdeckerei“, die vielleicht sein Meisterwerk ist, wandelt der Ich-Erzähler durch einen nächtlichen Alptraum, ist gefangen in einem Netz, auch das typisch für den Film noir. Die Anti-Helden stolpern durch nicht enden wollende Dunkelheit, sind gefangen in einem Netz aus Intrigen, Lügen, Vergangenheit ... Das Netz ist aber manchmal auch ein kreisförmiger Irrgarten, in dessen Gängen die Protagonisten ... ja ... irren. Umherwandern wie die Schlafwandler, mal mehr, mal weniger wach. Lichter dringen durch die Dunkelheit. Mir fallen ein: Cornell Woolrich: „Die Nacht hat tausend Augen“. W.R. Burnett: „Der Asphalt Dschungel“. Raymond Chandler: „Der große Schlaf“ und „The long Goodbye“.
Hilbigs Romane und Erzählungen stehen durchaus in einer Verwandtschaft mit den Kriminalromanen der amerikanischen Moderne. Menschen verschwinden. Verbrechen sind unaufgeklärt und schleichen sich ein... In den dunklen Behausungen lauern Tod und Unglück. Quillt der märchenhafte Brei der Romantik aus allen Krügen, wird der süße Brei zum Gift, hören wir Stimmen ..., erkennen wir Zeichen, Hilbig dekonstruiert wie in Antonionis Film „Blow up“: „... das Geräusch von Schritten, die sich entfernen, sie in einem Nebengang sind, ein Tappen, das der Schwamm der Wände über Jahre gespeichert hat, die Schritte in anderen Hallen, manchmal leiser, manchmal Totenstille. Schritte, ein Schürfen, deutlich eine Stimme, die einen unmöglich zu verstehenden Satz sagt.“
Woolrich, Chandler, Burnett, Hammett, James M. Cain, David Goodies ... (Wen kannte Hilbig von diesen unterschätzten Kriminalschriftstellern?)
Stilistisch ist von den Genannten allenfalls der fast vergessene Cornell Woolrich Wolfgang Hilbig sehr nahe, beziehungsweise umgedreht. Las Hilbig Woolrich? Woolrich war ein schwarzer Romantiker, ein Einzelgänger, der bei seiner Mutter lebte, ein manischer, aber auch depressiver Nachtmensch, der aus dem Fenster zum Hof Hitchcock sah ...
Doch Suspense im eigentlichen Sinne, war Hilbig fremd. Es ist doch ein endloses Retardieren, Kreisen, das die „Abdeckerei“, aber auch das „Ich“ ausmachen, bestimmen. Aber dennoch ist eine Angst spürbar, eine Spannung, die auch gleichzeitig Erschöpfung ist. „Nach dem Verschwinden der Dämmerung am Wintermorgen, das Kraftwerk mit seinen Lichtern (...), die Gespenster sind mit der grauen Luft verflogen (...) Dort drüben bin ich der Einzige, allein in meiner Nähe durchsuchte ich das Terrain in den Nebeln, ich allein bin es, der sich das Auge blind stößt an einem Schlüssel, der im Schloss einer verquollenen Tür rostet.“
Manchmal wundere ich mich, warum es in „Alte Abdeckerei“ nicht schneit. Aber dort herrscht ein Herbst, der die Wasseraugen ungefroren lässt, ein Herbst, der schwül sein kann, der Sommer sein kann, der Laubmassen über die Erde legt ... Kein Schnee. Bei Hilbig schwitzen die Mauern und die Flüsse und die Menschen, ist die Haut mit Schweiß und Schleim bedeckt ...
In „Die verlassene Fabrik“ ist nun aber Winter. Aber in der Fabrik, die der Ich-Erzähler aufsucht, gefriert nichts, nein, es tropft. Dann aber doch wieder „das dunkle, gefrierende Wasser“, atmosphärisch verschränken sich hier Herbst und Winter und Niemandsland.
Als Dozent für literarisches Schreiben in Hildesheim und am Literaturinstitut in Leipzig habe ich den Studenten immer einen Hilbig-Text mitgebracht: „Die verlassene Fabrik“.
Es ist keine klassische Kurzgeschichte, die erwartet uns bei Hilbig sowieso nie, es ist eine Prosaminiatur. Über drei Seiten trägt uns der Stil, der hier schon so unvergleichlich und typisch Hilbig ist. Ein Kreisen, eine Bewegung hin zu einem Ort und dann doch wieder weg von diesem Ort ... In „Die verlassene Fabrik“ bewegt sich der Ich-Erzähler erst zum Ende weg, weit weg, in den Winter hinein. Mit dem ja alles begann. So setzt Hilbig die Klammer.
„Nach dem Verschwinden der Dämmerung am Wintermorgen ...“
„Tief in der Vergangenheit begonnener Winter, hinter den Ebenen, wo er den Nebeln nicht entweichen kann ...“
Nicht entweichen können wir auch der Sprache Hilbigs.
Eine Miniatur zu schreiben, die beinahe nur durch Sprache lebt. Einen Unort beschreiben in einer großen Poesie. In „Die verlassene Fabrik“ Leben reinzuholen.
Langen Sätzen folgen. Die auch assoziativ sind.
„Als ich den Raum verließ, hätte ich mich von den Tropfgeräuschen entfernen müssen, aber ich irrte mich, je weiter ich kam, hörte ich mehr Wasser, manchmal war es ein Klatschen und Schwappen in dem Labyrinth der Räume ...“

Wolfgang Hilbig im Orginalton mit seinem Text "Der Leser" am 22. Juli 2002 im Hörspielstudio 2 im Berliner Funkhaus Nalepastraße, wo im Auftrag von MDR KULTUR die Aufnahmen für das Hörbuch "Der Geruch der Bücher" in der Redaktion und Regie von Matthias Thalheim stattfanden. Dieses Gedicht gelangte damals nicht in die zeitlich limitierte Auswahl der CD. – Matthias Thalheim macht es hier erstmals der Öffentlichkeit zugänglich.
Wolfgang Hilbig liest: Der Leser
Auch die Aufnahme des Gedichtes "geste" – eingesprochen von Wolfgang Hilbig 2002 im Berliner Funkhaus Nalepastraße und bislang unveröffentlicht – wird hier zum 80. Geburtstag des Dichters von Matthias Thalheim erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Wolfgang Hilbig liest: geste