"Salix"

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  • "Salix" - das sind Radierungen zur Landschaft bei Wolfgang Hilbig nach Textmotiven und Eindrücken der Umgebung in Meuselwitz; ein Projekt der Malerin Katja Enders-Plate zum Internationalen Wolfgang-Hilbig-Jahr 2021, gefördert durch ein Arbeitsstipendium der Stadt Leipzig. Die gleichnamige Ausstellung im Literaturhaus Leipzig mit insgesamt 30 Arbeiten zu Wolfgang Hilbig - Malerei und Druckgrafik - wurde am 14. September 2022 eröffnet

Zugleich entstand die Grafikmappe "Salix":

Die Mappe beinhaltet fünf ausgewählte Radierungen der Künstlerin Katja Enders-Plate aus dem Zyklus und eine Einführung des Literatur- und Kunstkritikers Michael Hametner.

Die Blätter sind inspiriert von Wolfgang Hilbigs Erzählungen, ihren Schauplätzen und der landschaftlichen Umgebung um die Stadt Meuselwitz - wie Wuitz-Mumsdorf, wo in den Auen die Ruine des ehemaligen Betriebsteils 6 der Maschinenfabrik mit dem Heizhaus, einst Wolfgang Hilbigs Arbeitsplatz, zu finden ist. "Salix" lautet der lateinische Name des in Hilbigs Erzählwerk oft anzutreffenden Weidenbaumes.

Enthalten sind die folgenden fünf Arbeiten:
"Nuit blanche" -- "Alte Abdeckerei" -- "Arbeitsplatz" -- "Nie war Natur so nah" -- "Kippe"

Die Grafikmappe ist auf fünf Exemplare limitiert.
Erhältlich ist sie bei der Künstlerin oder der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft.
katjaenders@gmx.de // www.katjaenders.de
Homepage/Kontakt
mail@wolfgang-hilbig.de // www.wolfgang-hilbig.de

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"Nuit blanche", Aquatinta-Ätzradierung, 17 x 29 cm
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"Alte Abdeckerei", 19,5 x 29,6 cm
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"Arbeitsplatz", vernis mou, 39 x 29,5 cm
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"Nie war Natur so nah", vernis mou, 39 x 29,5 cm
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"Kippe", Aquatinta-Ätzradierung, 29 x 21,5 cm

Katja Enders Plate

Fünf ausgewählte Radierungen

aus dem

Grafik-Zyklus

„Salix“

SALIX – eine Folge von fünf Radierungen von Katja Enders Plate

Das Aufregende an den fünf, dem Werk von Wolfgang Hilbig zugeeigneten Radierungen von Katja Enders Plate ist, dass sie keinen Text von Wolfgang Hilbig illustrieren. Zwar gibt es vom Dichter eine Erzählung mit dem Titel „Alte Abdeckerei“, aber darin keine Straßenszene, wie sie auf dem gleichnamigen Blatt der Künstlerin zu sehen ist. Und doch finde ich Hilbigs Welt kongenial aufgenommen. So wie man ihr nachsagt, sie habe ein konspiratives Verhältnis zum Genius loci, zeigt sie in diesen Blättern ein konspiratives Verhältnis zum Dichter Hilbig.

Schon vor einigen Jahren war Katja Enders Plate ein Auswahlband mit Texten von Wolfgang Hilbig in die Hände gekommen. Die Lektüre wirkte still in ihr nach, bis sie eines Tages etwas öffnete. Plötzlich erfuhr sie, dass sie in Leipzig nahe der Spittastraße 19 im Stadtteil Altlindenau wohnte, in der Hilbig ab 1982 für drei Jahre bei einer Freundin untergekommen war. Die Künstlerin, die der Zufall einer Wohnungssuche zur posthumen Nachbarin von Hilbig gemacht hatte, hatte sich vorgenommen die Kneipen des Dichters in diesem Viertel aufzusuchen. Weil sie die Verruchtheit fürchtete, betrat sie die Orte nicht. Eines der Dächer, die sie aus dem Küchenfenster schaute (und von dort oft auch zeichnete), gehört zum Haus, in dem der Dichter gelebt hatte. Ihre Spurensuche in Bildern, die zur Leipziger Lebenswelt des Dichters führte, trieb sie zum eigenen künstlerischen Arbeiten an.
Die andere Bildquelle wurde die Prosa Hilbigs mit ihren mal mehr romantischen, mal mehr surrealen Verschlingungen, ihren ständigen Überblendungen von Gegenwart und Vergangenheit, von Außen- und Innenwelt, Tag und Nacht. Besonders packte sie die Erzählung ANFANG EINES TRAUMS, in der Hilbig sich in einer labyrinthischen Landschaft als Kind begegnet. Das Erzählen stieß die Fantasie der Künstlerin an. Das Netzwerk aus Dichterworten ging über in ein Netzwerk aus Linien, die hineinstreben in eine Zwischen-Welt. So sind sich Katja Enders Plate und Wolfgang Hilbig eines Tages auf den Zinkplatten im Atelier der Künstlerin begegnet.

Das Blatt, das sie NIE WAR NATUR SO NAH nennt – ist das nicht die Wegkarte für die Erzähler-Stimme in Hilbigs ANFANG EINES TRAUMS oder ALTE ABDECKEREI, sind das nicht die Spuren vom Gang eines Kindes über unsicheres Gelände, das die provisorisch verfüllten Braunkohlentagebaue zurückgelassen hatten? Und lässt die Radierung ARBEITSPLATZ nicht im Durchblick auf ein helles Zentrum in der Bildmitte einen Ofen im Heizungskeller ahnen, wenigstens ahnen? Warum heißt ein anders Blatt KIPPE? Der Begriff darauf scheint selbst eine Überblendung geworden: die Kippe aus Abraum, darin nicht nur abgetragener Oberboden, auch Reste weggebaggerter Häuser, als lebten wir entlang der Kohle auf der Kippe, und die weggeworfene Kippe, als Zeichen des Dichters, der sich mit Zigaretten durch die Nacht treibt. Welche anderen Assoziation stößt das Blatt an? Die kleinen hellen Flecken, die jetzt aussehen wie die Ränder von Weinbrandgläsern, ist Abdecklack, den sie absichtlich auf die Platte hat tropfen lassen, damit er zufällige Formen schafft. Auf dem Blatt NUIT BLANCHE schafft sie mit Tropfen von Benzin, die sie auf die Aquatintakruste gibt, eine magische Aura des Morbiden. Das ist dem Drip Painting der abstrakten Expressionisten abgeschaut und tut auf ihren Blättern große Wirkung. Wir sehen Linien, die weggefressen werden, Flecken als Spuren der Verwandlung, die in Wolfgang Hilbigs Prosa ständig anwesend ist. Er sah in seinen Jahren als Heizer immerfort Kohle in Asche zerfallen. Das Blatt ARBEITSPLATZ geht mit der Technik der Weichgrundätzung in der Bildperspektive auf diesen, Materie verwandelnden Feuerofen zu.

Was Katja Enders Plate zu Hilbig geführt hat, ist nicht der Wunsch sich mit einem großen Dichter selbst zu vergrößern, sondern es sind ihnen beiden gemeinsame Sinne. Die Neigung der Künstlerin zu Romantischem, das sich in labyrinthischen Netzwerken ausdrückt, lebt ihr der Dichter in seiner Sprache vor. Was sich auf den fünf Blättern zu erkennen gibt, ist ihr gemeinsamer Kosmos – der des Dichters und der der Künstlerin. Der eine formuliert ihn mit Worten, die andere mit der Sprache ihrer Bilder. Dreißig Jahre von einander getrennt, aber sonst sehr nah.

Wolfgang Hilbig kam nicht aus einem Milieu, das ihn wie von selbst zur Literatur geführt hätte. Seinen Vater kannte er nicht, im Krieg vor Stalingrad vermisst; sein Großvater, ein aus Polen zugewanderter Bergmann, ein Analphabet; seine Mutter als Alleinerziehende, die ihrer Familie etwas bieten wollte, war kaum in der Lage, ihren Sohn zu fördern. Hilbig ging nach der achten Klasse von der Schule ab und erlernte den Beruf des Werkzeugmachers. Früh schon verspürte er den Drang zum Schreiben. Deshalb ließ er sich in den Heizungskeller versetzen, um – wenn das Feuer in den Kesseln tanzte - Zeit und Ruhe zum Schreiben zu haben. So wurde er Heizer und mit den Jahren ein Dichter der Moderne.

Katja Enders Plate wurde dreißig Jahre nach Hilbig in einer ähnlich kleinen Stadt geboren: in der Bergstadt Marienberg im Erzgebirge. Anders als in Hilbigs Meuselwitz wurden hier schon im frühen 16. Jahrhundert zuerst Silber, später Kupfer und Zinn abgebaut. Zunächst studierte sie an der Fachhochschule für angewandte Kunst in Schneeberg, danach an der renommierten HGB in Leipzig und war anschließend Meisterschülerin bei Professor Arno Rink. Seit der Studienzeit zeichnet sie pleinair und geht in die Landschaft. Zum Arbeiten vor der Natur.

SALIX ist der lateinische Name der Weide, einem Baum, der in der Prosa von Hilbig sehr oft auftaucht.

Wolfgang Hilbig im Orginalton mit seinem Text "Der Leser" am 22. Juli 2002 im Hörspielstudio 2 im Berliner Funkhaus Nalepastraße, wo im Auftrag von MDR KULTUR die Aufnahmen für das Hörbuch "Der Geruch der Bücher" in der Redaktion und Regie von Matthias Thalheim stattfanden. Dieses Gedicht gelangte damals nicht in die zeitlich limitierte Auswahl der CD. – Matthias Thalheim macht es hier erstmals der Öffentlichkeit zugänglich.
Wolfgang Hilbig liest: Der Leser
Auch die Aufnahme des Gedichtes "geste" – eingesprochen von Wolfgang Hilbig 2002 im Berliner Funkhaus Nalepastraße und bislang unveröffentlicht – wird hier zum 80. Geburtstag des Dichters von Matthias Thalheim erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Wolfgang Hilbig liest: geste